BERLIN - MITTE

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  Berlin
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Alles Mitte, oder was?

Vom Schloss Bellevue zum Hackeschen Markt

Nördlich des Straßenzuges 17. Juni / Unter den Linden

Rund um die Oranienburger Straße:


Auguststraße

August 2007
Anfang (und Ende) der Auguststraße. 

Hausnummer 1 links, rechts die 92. 

Viele Straßen in Berlin zählen auf der einen Straßenseite hoch und auf der anderen herunter, Schlecht, da eine Hausnummer zu finden. Zumal wenn die Straßen, wie z.B. der Kurfürstendamm, lang sind.
Juli 2022

Das Haus wurde 1881 gebaut.

April 2007
April 2007
Wer noch das alte Berlin sucht, ist hier richtig, hier in der Spandauer Vorstadt. Und das ist nicht zu verwechseln mit dem Scheuenviertel. Da Endet die fast 1 km lange und schnurgerade Auguststraße.

Sie beginnt an der Oranienburger Straße gegenüber den Tacheles mit der Hausnummer 1 auf der rechten Seite,, hält runter bis zur Kleine Rosenthaler Straße und auf der nördlichen Seite wieder zurück. So liegt die Hausnummer 92 gegenüber der !. Übrigens zählt der Kurfürstendamm genauso seine Häuser.



Historie

Der Straßenzug existiert seit 1708. Bis 1723 hatte er den Namen Arme Sündergasse. Dann, bis 1739, hatte man wohl den Sündern vergeben und sie hieß nur noch Armengasse.

Fast 100 Jahre (1739-1833) trug sie den Namen Hospitalstraße. Die Straßen hier waren alle ungepflastert und von flachen Fachwerkhäusern gesäumt. Die sanitären Verhältnisse müssen katastrophal gewesen sein.

Par ordre du mufti bestimmte der Polizeipräsident von Berlin am 1. Juli 1833, dass die Straße nun Auguststraße genannt wird. Nach Prinz Friedrich Wilhelm Heinrich August von Preußen (1779-1843). Er war immerhin General der Infanterie, Generalinspektor und Chef der Artillerie. Ob der sich gefreut hat?

Jetzt ist Leben in der Auguststraße. 

Na ja, vielleicht nicht überall.

April 2007

Blick in die Auguststr. Richtung Osten.

Wer mal die Gelegenheit hatte in den Hausflur des Eckhauses Auguststraße 77/Tucholskystraße 35 reinzuschauen, wird überrascht sein. 


So ein riesiges Treppenhaus rund um einen großen, dunklen Innenraum gibt es wohl nicht noch einmal in Berlin. 


Oben, das letzte Erkerzimmer im 3. Stock, wurde in der Kindheit abwechselnd "Komandobrücke auf großer Fahrt" oder zum Zählen der "Suppentriesel" vom gegenüber liegenden Hof des Postführamtes genutzt...

April 2007

Das Haus wurde 1881 gebaut.

Mai 2021

Links die Auguststraße und die Hausnummer 77 in dem für 1881 sehr großem Gebäude- Rechts die Tucholskystraße. Da hat es die Nr. 35.

Das Gelände zieht sich bis zur Synagoge hin.

Mai 2021
Mai 2021

Zuwanderung


Von Anfang an prägten jüdische Familien das gesamte Viertel. 

Seit 1713 war Friedrich Wilhelm I. König in Preußen. Seine tolerante Religionspolitik sorgte für eine starke Zuwanderung osteuropäischer Juden. 

Sie schufen sich ihre Infrastruktur. Hier entband die Synagoge, das Jüdische Krankenhaus und die Jüdische Mädchenschule

Von 1950 bis 1996 wurde das Gebäude wieder als Schule genutzt. Dann stand der schöne Bau 10 Jahre lang leer.


Verschiedene Salons und Ausstellungen belebten es wieder. Heute befinden sich u. a. Galerien, eine Bar und Restaurant, Schauräume hier. 

Ehem. Jüdische Mädchenschule von 1930 (gegr. 1835)

Mai 2021

Nazis


Mit der Machtübernahme der Nazis begann das dunkelste Kapitel der Deutschen Geschichte. 

Besonders schlimm war es gerade hier in der jüdisch geprägten Spandauer Vorstadt.

Gerade mal 9 Stolpersteine in der Auguststraße erinnern an die Greultaten - so viele hat die kleinste Nebenstraße in Zehlendorf. Da stimmt was nicht!

Gedenktafel Auguststraße 11-13 

Ehem. Jüdische Krankenhaus, Auguststraße 14-16 

Mai 2021

Das ehemalige Jüdische Krankenhaus , erbaut von Eduard Knoblauch nahm 1861 den Betrieb auf. Es wurde aber bald wieder geschlossen weil das St, Hedwig-Krankenhaus um die Ecke immer größer wurde.So ab 1900 nahm es osteuropäische Juden auf. 1922 wurde es ein Kinderheim. Die Nazis brachten hier alte und kranke Juden unter bevor sie ins KZ kamen.

Mai 2021

Wie diese Haus Nr.10 sahen hier viele aus - und wurden nach der Wende wie das Tacheles besetzt.

DDR


Ausgerechnet die Auguststraße hat die (nur kommunistisch gebildete) Staatsführung bei den Umbenennungen vergessen. Sie haben das Preußentum, zumindest in den Anfangsjahren, regelrecht gehaßt. 

Hätten sie sonst das Schloss abgerissen? Das Reiterstandbild vom Alten Fritz einschmelzen wollen? Dabei musste Prinz August von Preußen in ihren Augen wahrlich ein „preußischer Kommiskopp“ gewesen sein.

Sie haben es Gottseidank verpennt . Sonst hätte die Straße so einen dämlichen Namen wie sie hundertfach im ganzen Land immer noch vorkommen: Marx/Engels/Lenin, E.-Thälm./Geschw.-Scholl-Straße-Allee-Weg-Ring usw. Wobei Stalin/Pieck/Grotewohl schnell wieder aus der Mode gekommen sind.

Nach dem Krieg waren viele der alten Häuser schwer beschädigt oder komplett zerbombt. Die Wohnungsbaugesellschaft Mitte verwaltete mehr oder weniger nur die Mängel.
Mai 2021

Bestimmt waren das rechts und links neben dem Haus Bombentreffer

Wende


Nach der Wende kam sofort der Straßenstrich in die Oranienburger zurück. Der war seit den Golden Twenties verschwunden.

Überall schossen Bars und Restaurants aus dem Boden - und waren genau so schnell wieder weg. Touristen, oft aus Norwegen und England flogen übers Wochenende billig ein und übten Flatrate-Saufen.

War das gesamte Viertel zu DDR-Zeiten einheitlich Grau in Grau, zog plötzlich Leben und Farben hier ein.. Leerstehende Häuser wurden besetzt. 

Von 1993-2009 wurde das Viertel Sanierungsgebiet. Trotzdem gab es 2014 hier noch an die 60 Kunstgalerien.

Ist jetzt die Gentrifizierung hier angekommen?
Mai 2021

Corona-Test in der Nr. 20. Man hat schließlich am letzten Sonntag im Mai noch was vor.

Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24-25

Mai 2021

Seitenflügel und Vorderhaus sind weggebombt, aber getanzt wurde seit 1913 hier fast immer. In einem der letzten traditionellen Ballhäuser Berlins, in Clärchens Ballaus.

Der Eingang zu Clärchens Ballhaus im ehemaligen Hinterhaus. Im 1. OG der  denkmalgeschützte Spiegelsaal. 

2020

Der denkmalgeschützte Siegelsaal im 1. OG (Bild aus Wikipedia: Lizen

Mai 2021
Ballhäuser haben in Berlin eine weit über hundertjährige Tradition. Da, wo Berlin am dichtesten bebaut war, schossen ab 1900 die Ballhäuser wie Pilze aus dem Boden.
 
Sie lagen in der Ackerstaße, Auguststraße, der Naunyritze, dem Bülowbogen (seit 1920 im Walterchens Ballhaus für Schwule und Lesben), in Gegenden also, die nicht gerade für „Schöner Wohnen“ bekannt waren. Oft lagen die Ballhäuser in unscheinbaren Mietshäuser in Hinterhöfen.
 
Es gab wilde Tanzschuppen, oder mondäne Häuser mit Wasserorgel, Rohrpost und Telefonen an den einzelnen Tischen wie im „Resi“ in der Hasenheide. Gleich daneben Kliems Festsäle, gerade rüber der Klosterkeller, das Coliseum und die Neue Welt. Es spielten richtig große Big Bands auf. Die Namen der Bands und Häuser kannte jeder Berliner.
 
Das Volk wollte Tanzen. Vor, im und nach den 1. Weltkrieg, mit Höhepunkt in den „Golden Twenties“ (s. Babylon-Berlin, 4 Staffeln im TV). Die Ballsaison 1927/28 verzeichnete für Berlin 300 Bälle. In den 50er Jahren gab es dann noch mal einen Höhepunkt. In den Prälat Schöneberg fanden 2.000 Gäste in 8 Sälen Platz - bei Weinzwang.
 
Und verblüffend: einige gibt es heute noch, wie z. B.
 

Clärchens Ballhaus

 
2013 feierte es 100 Jahre Bestehen, fast immer im Familienbesitz.
 
Und es ist das 2. mal, dass man sich in der Auguststraße (s. oben) über die DDR wundern kann. Es durfte als einer der wenigen Betriebe in den 40 Jahren privat weitergeführt werden. Es war eine so tief in der Bevölkerung verwurzelte Tradition, dass sich der „Arbeiter- und Bauernstaat“ hier nicht rantraute.
 
Immerhin gab es ja so etwas wie eine Zweiklassengesellschaft. Oben, im 1. Stock, der Beletage im Hinterhaus, der Spiegelsaal für die feinen Leute und unten das Leben in der Spandauer Vorstadt.
 
Viele Filme wurden hier gedreht, sogar einer über den Garderobier Günter Schmidtke, ein Berliner Original. Als er 2020 starb, schrieb der Tagesspiegel „Wer tanzen wollte, musste an ihm vorbei…“. Es gibt Bücher, Musikaufnahmen von Max Rabe, Prominente schauten rein, volksnah eben. 
 
Wer zieht sich heute noch im Zeitalter der Turnschuhe sein bestes Zeug an, putzt sich heraus, geht zum Tanztee, oder legt abends einen flotten Tango oder Foxtrott aufs Parket? Ohne Sakko und Schlips kam keiner rein.
 
Mai 2021

Biergarten, Clärchens Ballhaus

Literaturverzeichnis Berlin